Folgt man dem „Buch der Wandlungen“ (Yijing 易經) in der Annahme, dass die Welt sich im stetigen Wandel befindet, dann ist jeder Moment in dem Sinne neu, dass er sich vom vorherigen unterscheidet. Aber der Wandel folgt den Gesetzmäßigkeiten, die mit den 64 Hexagrammen beschrieben werden. Für das radikal Neue, verstanden als das noch nie vorher Dagewesene, steht im Denken des klassischen China, nur ein eingeschränkter Raum zur Verfügung. Welche Wandlungsform die Welt auch immer annehmen sollte, sie bleibt im Rahmen der Beschreibungskraft des Yijing.
Nun versichert uns das „Große Lernen“ (Daxue 大學), dass alle Angelegenheiten einen Anfang und ein Ende haben. „Die Dinge haben einen Anfang und ein Ende. Wenn man weiß was zuerst kommt und was danach, dann ist man dem Dao nahe.“ (事有終始,知所先後,則近道矣。大學-1) Aber wann endet das Alte und wann beginnt das Neue?
Als praktisches Problem taucht diese Frage unter japanischen Schintoisten bei der Shikinen-Sengū (式年遷宮) Zeremonie im Ise Jingū Schrein (伊勢神宮)auf. Dabei wird die Haupthalle des Schreins in regelmäßigen Abständen abgebrannt, aber dann auch identisch wieder aufgebaut und eingeweiht. Handelt es sich nun um einen neuen Schrein oder wurde der alte nur erneuert? Als es darum ging, die religiöse Anlage auf die Liste des UNESCO-Welterbes aufzunehmen, wurde dies abgelehnt, weil die Authentizität des Schreins wegen der häufigen Rekonstruktion nicht gegeben sei. Stattdessen einigte man sich darauf die Zeremonie auf der Liste des immateriellen Kulturerbes zu setzen.
In der griechischen Mythologie erzählt man sich dagegen die Geschichte von Theseus Schiff, welches über die Jahre hinweg so häufig repariert wurde, dass am Ende keines der ursprünglichen Teile mehr vorhanden war. Ist es überhaupt noch das alte Schiff oder nicht längst ein neues?
Auch Historiker können ein Lied davon singen, wie schwierig es ist den Anfang des Neuen zu datieren. So findet man Geschichtsbücher welche die Neuzeit wahlweise mit der Eroberung Konstantinopels, der Entdeckung Amerikas oder mit Martin Luther beginnen lassen. Häufig entwickelt sich das Neue auch so langsam aus dem Bestehenden, dass erst aus der Retrospektive als Innovation erkennbar ist.
Eine scharfe Abgrenzung von Neuem und Altem scheint also viele Probleme mit sich zu bringen. Trotzdem spricht das Daxue davon, uns um die tägliche Selbsterneuerung zu bemühen. Auf der Waschschüssel von Tang Shang, dem von den Konfuzianern hoch geschätzten, legendäre Begründer der Shang Dynastie soll folgende Gravur gestanden haben: „Wenn man sich auch nur an einem Tag erneuern kann, dann kann man sich Tag für Tag erneuern und so an jedem weiteren Tag.“ (茍日新,日日新,又日新。大學-6)
Hierin ist aber sicherlich keine Aufforderung zu lesen, der König möge sein First-Mover Advantage ausnutzen um als disruptiver Game-Changer den Status Quo herauszufordern. Die Erneuerung, von der hier die Rede ist, ähnelt eher der Wiederherstellung eines alten, aber idealen Zustands als einer inspirierenden Neuerfindung. Sie gleichen wahrscheinlich eher dem Schrein und dem Schiff als den Zukunftsvisionen aus dem Silicon Valley. Neben all den Schwierigkeiten das wirklich Neue zu erkennen und es vom bloßen Wandel zu unterscheiden, steht diese Form der täglichen Erneuerung uns allen offen.
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